
Ducati Panigale V4 R TestBella, die Bestie
Text: Daniele Carrozza
Fotos: Milagro
Sie wollen wissen, was Schauspielerin Monica Bellucci – in Matrix Reloaded die Gefährtin des Schurken Merowinger – mit der brandneuen Ducati Panigale V4 R gemeinsam hat? Nun, beide stammen freilich aus „Bella Italia“, beide sind sehr begehrenswert – wer hätte nicht gerne ein Rendezvous mit der einen oder der anderen beziehungsweise gleich mit beiden? – beide sind in ihren jeweiligen Metiers absolute Spitzenklasse, und (jetzt komme ich auf den Punkt) sie verfügen beide über ziemlich unwiderstehliche Rundungen, die vielleicht nicht dem Mainstream-Ideal entsprechen, ihnen jedoch definitiv das gewisse Etwas verleihen.
Und schließlich wird der Umgang mit diesen exklusiven „Persönlichkeiten“ nur einem sehr kleinen, erlauchten Kreis von Glückspilzen gewährt sein. Heute gehöre ich, wenn auch nur für einen Tag, zu diesen Auserwählten. Nicht, dass Monica Bellucci hier in Jerez wäre, leider nein. Aber immerhin die ab Januar für 47.995 Euro erhältliche Panigale V4 R steht vor mir, und ich bin einer von weltweit lediglich zwölf Journalisten, welche sie eine Stunde um den GP-Kurs pilotieren dürfen.
Ich bin mir der Tragweite des in der Box für mich bereitstehenden Bikes durchaus bewusst, läutete die Panigale V4 bei den Ducati-Superbikes doch einen einschneidenden Paradigmenwechsel ein: weg vom dogmatischen V2- und hin zum MotoGP-erprobten V4-Aggregat. Tatsächlich geht mit dem „Desmosedici Stradale“ genannten V4-Reaktor eine dreißigjährige V-Twin-Ära zu Ende, in der von 851 über 916 und 1098 bis hin zur Panigale in der (faktisch dominierten) Superbike-WM insgesamt 14 Fahrer- und 17 Konstrukteurstitel eingefahren werden konnten.
Damit ist nun definitiv Schluss, wobei sich das Ducati-Werksteam mit den Fahrern Chaz Davies und Alvaro Bautista ab 2019 nun ebenfalls auf den 90-Grad-V4-Motor freuen darf (bis dato wurde ja noch mit dem V2 gefahren). Und genau dieser Homologations-Basis für den Werksrenner werden wir nun die Sporen geben.
Weil in der Superbike-WM der Hubraum reglementarisch mit tausend Kubik nach oben gedeckelt ist, wurde der Desmosedici Stradale für den Einsatz in der V4 R von 1103 auf 998?Kubik reduziert. Geschehen ist dies über eine kurzhubigere Auslegung (48,4 statt 53,5 mm), welche als Nebeneffekt die Drehfreude steigert. Erstaunlich ist, dass trotz 105?Kubik kleinerem Antrieb und gleichbleibender Verdichtung eine signifikante Steigerung der Spitzenleistung vorliegt.
Sie beträgt 221 statt 214 PS und steht bei schwindelerregenden 15?250 Umdrehungen an (Begrenzer bei 16?000 Touren!). Möglich machen das Ingenieurskunst und High-Tech-Komponenten sowie -Werkstoffe. So kommen etwa Titan-Pleuel zum Einsatz; jedes 100?g leichter als die Stahl-Pendants der V4. Die geschmiedete Kurbelwelle mit Lagern aus Magnesium-Legierung wurde um ganze 1,1 Kilo erleichtert, die Schmiedekolben verfügen jeweils über lediglich einen Kompressions- und Ölabstreifring. Das verringert die innere Reibung und kommt der Drehfreude zugute.
Parallel wurde dafür gesorgt, dass der R-V4 gerade bei hohen Drehzahlen raue Mengen an Zunder zugespielt bekommt. Denn der Druck aus der Mitte („nur“ 112 statt 124 Newtonmeter) ist bei einem kompromisslos für den Rennstreckeneinsatz optimierten Racer zweitrangig. Die elliptischen Drosselklappen sind vier Millimeter grösser und zudem strömungsoptimiert. Sie atmen durch optimierte variable Einlassschlunde sowie einen hochdurchlässigen Rennluftfilter und führen durch vergrößerte Ansaugkanäle vorbei an Nockenwellen mit gesteigertem Hub zu den Titan-Einlassventilen, die von Keilen aus dem gleichen Edelmetall gehalten werden. Im stärksten Ducati-Motor aller Zeiten – übrigens mit optimierter Ölpumpe, abgespecktem Lichtmaschinenrotor und STM-EVO-Trockenkupplung – steckt also schon mal jede Menge genuiner Renntechnik.
Wer es nun aber wirklich wissen will, ordert die Ducati-Performance-Auspuffanlage von Akrapovic (zirka 4500 Euro), die der V4 R astrale 234 PS und damit ein Leistungsgewicht von 1,25 PS pro Kilo (statt 1,14) entlockt. Das ist ziemlich genau die Topleistung von Loris Capirossis MotoGP-Renner aus dem Jahr 2003. Das fahrfertige Gewicht reduziert sich mit der Akrapovic-Anlage, die mit entsprechenden Elektronik-Mappings geliefert wird, von 193 auf 186,5 Kilo fahrfertig. Richtig erstaunlich ist auch, dass die Roten beim R-V4 dieselben großzügigen Serviceintervalle vorschreiben wie bei der Basis beziehungsweise der S-Version.
Auch beim Fahrwerk mit fast identischer Geometrie gingen die Ingenieure aufs Ganze: Der Rahmen, der sich am mittragenden V4 abstützt, ist nicht nur leichter, sondern flexibler gestaltet, was speziell am Kurveneingang Vorteile bringen soll. Leider ist unsere Vorserien-Testmaschine noch nicht mit diesem Bauteil bestückt, sodass wir mit dem konventionellen Rahmen einer V4 S vorliebnehmen müssen. Richtig „Racing“ ist, dass der Schwingendrehpunkt in vier Positionen justiert werden kann. So wird die R noch besser an den individuellen Fahrstil oder spezielle Streckenlayouts angepasst.
Anstelle des semiaktiven Öhlins-Fahrwerks der S kommen an der R „konventionelle“ Federelemente zum Einsatz. Ein relativer Begriff, denn die druckunterstützte und somit der Ölkavitation vorbeugende NPX-25/30-Gabel mit TiN-Beschichtung (Öhlins) entspricht viel mehr edelster Rennware. Gleiches gilt für das TTX36-Federbein und den ebenfalls regulierbaren Lenkungsdämpfer. Speziell bearbeitete Gabelrohre und -füsse sparen weitere 600?Gramm. Die Pirelli Diablo Supercorsa SP Pneus und die Marchesini-Schmiederäder kennt man bereits von der S-Version.
Ein besonderes Augenmerk gilt dem bei der V4 R serienmäßigen „Aero Pack“ von Ducati Corse: Der komplett neue Verschalungskit gibt der Primadonna optisch nicht nur eine bestialische Note, er schützt den Fahrer auch deutlich besser vor Fahrtwind, steigert den Abtrieb und optimiert zudem die Kühlung (siehe Kasten auf S. XX).
Bleibt die Elektronik. Weil bereits die V4 S von Kurven-ABS über Launch-Control, Traktions-, Wheelie-, Bremsdrift-, Powerslide- und Motorbrems-Kontrolle bis hin zum bidirektionalen Quickshifter alles bietet was es an Assistenzsystemen gibt, sah man in Bologna keinen direkten Handlungsbedarf. Wenngleich die Algorithmen der jeweils auch in Fahrt via Lenkertaster regulierbaren und in die Modi „Street“, „Sport“ und „Race“ integrierten Assistenzsysteme noch stärker für kompromisslosen Rennstreckeneinsatz optimiert wurden – besonders die nun prädiktiv, schneller und sanfter arbeitende Traktionskontrolle. Ganz neu sind der Pit-Limiter und der GPS-gestützte Lap-Timer, der nicht nur die Rundenzeiten automatisch misst (und im 5-Zoll-TFT-Display anzeigt), sondern auch zwei Sektionszeiten speichern und anzeigen kann.
Erster Turn! Die Piste ist noch „halbnass“, weshalb wir auf Regenreifen und im „Sport“-Modus rausgelassen werden. Und sieh an, sieh an: Wir fahren nicht etwa die „Standard-R“, sondern die Akrapovic-Version. 234 PS. Also los! Die Traktionskontrolle ist permanent in Aktion, die Farbe Gelb dominiert im TFT-Display. Vor mir öffnet sich die Gerade runter Richtung „Dry Sac“ – Vollgas! Die R dreht, endlich von den Fängen der Traktionskontrolle befreit, wie vom Affen gebissen hoch. Ab 10?000 Touren wird der Pilot vom unfassbaren Boost mit einem mächtigen Tritt aus der Szenerie katapultiert.
Bis in den sanft einsetzenden Begrenzer schießt die „digitale Drehzahlmesser-Nadel“ – Vierter, Fünfter, Sechster – hoch wie ein unter Starkstrom stehender Scheibenwischer. Die R ist trotzdem keine brachiale und kompromisslose Furie. Nein, sie gibt sich überraschend zugänglich. Sprich, ein erfahrener Pilot wird schon früh die volle Power ausspielen können. Nicht zuletzt freilich dank den hervorragenden Assistenzsystemen. Nur auf der Geraden habe ich mit der V4 R zu kämpfen. Da schaukelt sich die Front ziemlich arg auf, sodass ich vom Gas muss, um ein Lenkerpendeln zu verhindern. Ich vermute die Regenreifen und das softer abgestimmte Fahrwerk sind schuld.
Und ich behalte Recht. Im zweiten Turn, der im „Race“-Modus“ mit SC1-Pirelli-Slicks auf trockener Strecke gefahren wird, ist von der besagten Unruhe kaum etwas zu spüren. Was nicht heißt, dass man am Kurvenausgang unbedacht das Gas auf Anschlag drehen sollte. Denn die „Erre“ bleibt ein sensibles Hochpräzisionsinstrument mit dem Antritt eines Flugzeugträger-Dampfkatapults. Sauber auf den Rasten stehen, viel Gewicht nach vorne bringen und den Lenker möglichst sanft „führen“ – dann passt es. Apropos Präzision: Konzentrieren wir uns jetzt auf die Bremszone. Der härteste Bremspunkt in Jerez ist sicher nach der langen Geraden vor Dry Sac. Wer hier den Brembo-Stylema-Anker auswirft, wird kurzum in eine neue Dimension der Bremsperformance geschleudert: Die 330er-Anlage vorn arbeitet in allen Dimensionen dermaßen souverän, dass es mir fast die Tränen in die Augen drückt.
Die Verzögerung ist galaktisch, und man kann kaum fassen, wie arg sich diese Ducati bis hin zum Kurvenscheitel „zusammenbremsen“ lässt. Oft denkt man, es wäre noch einen Tick später und härter gegangen. Wohl ein Verdienst der heroischen Bremsstabilität. Hier zeigt das Aero Pack definitiv seine Wirkung und bietet zudem makellosen Windschutz. Auch die Rutschkupplung trägt ihren Teil zur eisernen Verzögerungsstabilität bei. Die Dosierbarkeit der Stopper? Unerreicht! Und dann dieses Feedback, das ebenfalls einer Offenbarung gleichkommt. Jedes Asphaltkorn spüre ich in der „Angel Nieto“, und wenn ich die Linie korrigieren will, dann ist die „Erre“ – präzis wie ein Scharfschützengewehr – jederzeit voller Elan mit von der Partie.
Dieses Bike ist quasi materialisiertes Vertrauen. Nicht zuletzt, weil in allen relevanten Dimensionen ein ausgesprochen breiter Grenzbereich vorliegt. Und dieser Charakterzug schlägt auch am Kurvenausgang voll durch. Nicht nur, dass die Linie – ob weit oder eng – bei beflügelndem Handling quasi nach Belieben variiert werden kann; es ist die zugängliche Handhabung der schieren Power, die eine Welt mit 234 PS auch für Normalsterbliche erfahrbar macht. Kurve 4 ist durchaus ein Pflaster, auf dem Mut gefragt ist. Und als würde ich auf einem 120-PS-Bike sitzen, spanne ich am Ausgang mehr oder weniger unbekümmert den Gaszug.
Die R stellt sich leicht quer, den Rest erledigt die Traktionskontrolle für mich. Unglaublich in welche Sphären die Regelelektronik inzwischen vorgedrungen ist. Im Flow fliege ich um den Kurs, die Rundenzeiten purzeln. Auch die Wheelie-Kontrolle macht einen magistralen Job. Und zwar insofern, als sie einen (wie die Traktionskontrolle) nicht einbremst. Das Vorderrad steigt zwar leicht, das frisst jedoch keine Zeit und ist erst noch Trumpf für eine gute Stilnote. Was für ein Erlebnis!
Fazit: die V4 R hat ihren Preis – aber sie ist von allen Großserien-Bikes, die wir je gefahren sind, sicher jenes, das am nächsten an einem echten Rennmotorrad dran ist. Der Motor ist bombastisch, Fahrwerk und Bremsen sowieso. Und die Elektronik sorgt dafür, dass die krasse Power für Normalsterbliche auch nutzbar wird. Dennoch empfehlen wir die R erfahrenen Piloten. Denn am Kurvenausgang sollte man hier – trotz Vollassistenz – schon wissen, was man tut.