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Clemens Kopecky
Autor: Mag. (FH) Clemens Kopecky
clemens.kopecky@motorrad-magazin.at
24.3.2016

Route des Grandes AlpesFRENCH CONNECTION

Wie ein überdimensionaler Zuckerhut überstrahlt der mystisch in Wolken gehüllte, schneebedeckte Gipfel des Mont Blanc das ohnehin schon gewaltige Alpenpanorama rund um ihn. Zum Greifen nahe scheint der „Monarch“ hier am Cormet de Roselend zu sein, nur ein oder zwei Gasgriffdrehungen am Horizont voraus.

Eine optische Täuschung, die uns schon seit unserem Start aus Cluses, knapp vierzig Kilometer südöstlich von Genf, irritiert: Der majestätische Lieblingsberg der Franzosen ist für Reisende auf der Route des Grandes Alpes unnahbar. Die „Königin der Alpenstraßen“ gewährt zwar grandiose Ausblicke auf das 4807 Meter hohe Massiv, der Berg bleibt trotzdem in kühler Distanz und scheint sich fast zu freuen, dass er die ganze Aufmerksamkeit der Motorradfahrer in Beschlag nimmt.

In meinem Fall etwas zu sehr: Meine rechte Hand verkrampft sich am Bremshebel, die Reifen quietschen erbärmlich - in allerletzter Sekunde und nur mit viel Mühe kann ich die Kawasaki ZZR 1400 in Schräglage werfen und durch die steile Haarnadelkurve bugsieren, die völlig unerwartet vor mir aufgetaucht ist und mich überrumpelt hat.

Frédéric, der Leiter des Fremdenverkehrsbüros in Arêches hatte mit seiner Warnung tatsächlich Recht: „Nicht am Genfer See, sondern hier am Fuße des Roselend ist der wahre Anfang der Route des Grandes Alpes!“ Vor dreißig Minuten hatte ich dieser Aussage noch keine große Bedeutung beigemessen und sie als Werbespruch eines schrulligen Bergdorf-Einwohners abgetan, jetzt aber verstehe ich: Die bisher überquerten Pässe Col de la Colombière und Col des Aravis waren zwar für uns Bewohner des Wiener Beckens landschaftlich fein, gegen das was an Ausblicken und fahrtechnischen Herausforderungen nun noch kommen sollte, sind sie jedoch nicht mehr als Appetitmacher. Sie dienen hauptsächlich als Zufahrtsstraßen zu den großen Skigebieten rund um La Clusaz und sind dementsprechend breit, gepflegt und übersichtlich ausgebaut.

Erst die Trassen rund um die „Barrages“ genannten Stauseen am knapp zweitausend Meter hohen Cormet de Roselend zeigen sich als würdige Repräsentanten der 1937 eröffneten französischen Hochalpenstraße. Dem Asphalt wurden offensichtlich seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts keine Verbesserungsarbeiten gegönnt, und so hoppelt mein Supersportler vor saftig grüner Alpenkulisse von einer abenteuerlich angelegten Spitzkehre zur nächsten. Eine leise Vorahnung macht sich bemerkbar, dass den knapp zweihundert Pferden unter meinem Hintern auf dieser Reise kaum Auslauf erlaubt werden kann.

Auf dem Weg nach Val d’Isère passieren wir den Ort Séez. Von hier nur fünfzig Kilometer weiter die N90 über den Kleinen St. Bernhard-Pass mündet man bei Courmayeur auf die italienische Autobahn und wäre kaum sechs Stunden später in Österreich. Unbegreiflich, dass die Dolomiten zeitweise von Zweirädern überschwemmt werden, sich die deutschsprachigen Motorradreisenden in den französischen Alpen aber fast an einer Hand abzählen lassen. Trotzdem ist die Befahrung der Route des Grandes Alpes alles andere als eine einsame Pioniertat. Die Zeiten in denen eine Überquerung der Alpen von Nord nach Süd eine Herausforderung für Mensch und Maschine – und damit selten - waren, sind längst vorbei.  Italiener, Schweizer und nicht zuletzt die Franzosen selbst haben schon lange ihre Liebe für die atemberaubenden 666 Kilometer zwischen Genfer See und Côte d’Azur entdeckt. Vor allem an Wochenenden sind endlos langsam schleichende Autokolonnen mit größtenteils einheimischen Ausflüglern auf den beliebtesten Pässen Beweis dafür.

Der vor uns liegende Col d’Iseran zählt zweifellos zu den Favoriten der Ortskundigen - muss er sich doch nur um wenige Meter geschlagen geben, wenn es um die höchste fahrbare Alpenüberquerung geht. Entlang dem Fluss Isère führt die gut ausgebaute D902 mit sanfter Steigung und weiten Kurven Richtung Val d’Isère, das sich in Europa vor allem durch die Austragung zahlreicher Skiweltcuprennen einen Namen gemacht hat. Kurz vor der Ortseinfahrt führt die Straße entlang des drei Kilometer langen Stausees Lac du Chevril, auf dessen Grund drei versunkene kleine Dörfer liegen. Im Zuge des Dammbaus wurden die Bewohner seinerzeit in den neu errichteten Ort Tignes oberhalb des Sees umgesiedelt. Zusammen mit Val d’Isère bietet Tignes heute mit über fünfzig Liftanlagen eines der ausgedehntesten Skigebiete der Welt.

So unspektakulär der Lac du Chevril vom Ufer aussehen mag - den besten Blick auf das kristallklare Gewässer gewährt die Nordrampe des 2770 Meter hohen Col d’Iseran. Spätestens hier realisiert man: Die Route des Grandes Alpes ist zwar nicht die einzige Möglichkeit die Alpen zu überqueren, aber mit Sicherheit die dramatischste und spektakulärste. Als letztes Teilstück der Hochalpenstraße wurde der Col d’Iseran vom französischen Staatspräsidenten Albert Lebrun freigegeben und ist ein absoluter Höhepunkt europäischer Straßenbaukunst. Das Gelände wurde so geschickt ausgenutzt, dass die Steigung der Trasse kaum elf Prozent überschreitet - Serpentinen gibt es daher nur wenige. Wer jetzt enttäuscht glaubt, dieser Pass sei für Motorradfahrer uninteressant,  kann beruhigt werden. Aber wer neben dem puren Kurvenvergnügen auch ein Auge für die hochalpine Landschaft hat, wird sich vor lauter Staunen über die königliche Kulisse sowieso kaum aufs Fahren konzentrieren können. Am Aussichtspunkt „Belvédère de la Tarantaise“ machen wir halt und starren gebannt in jene Richtung, aus der wir gekommen sind: Tief unter uns im Talkessel liegt Val d’Isère, dahinter der Lac du Chevril, rundherum Gletscher, Firnfelder und mehrere Dreitausender. Luis Trenker hätte seine Freude.

Nach Bonneval-sur-Arc am südlichen Fuß des Iseran heißt es zur Abwechslung einmal „Gas auf“. Gendarmen gibt es nach freundlicher Auskunft eines Bistrobesitzers im Hochgebirge „wegen der Kälte und der gefährlichen Straßen“ selten, daher riskieren wir die Urlaubskasse und lassen bei einem Geschwindigkeitsschnitt weit über dem legalen Landstraßentempo die sprichwörtliche Sau fliegen. Ausnahmsweise kommen uns in der kommenden Stunde Fahrzeit keine fiesen Kurven in die Quere, die Geschwindigkeit wird erst auf den zahlreichen weiten Kehren hinauf zum relativ niedrigen Col du Télégraphe unwesentlich gedrosselt. Er ist nämlich nichts weiter als das Vorgeplänkel zum nächsten hochalpinen Highlight und sorgt besonders bei Fahrradprofis jedes Jahr für vorzeitige Konditionseinbrüche. Télégraphe und der 2646 Meter hohe Col du Galibier – meistens höchster Pass der Rundfahrt - bilden die Königsetappe der (Tor)tour de France. Für Motorradfahrer vergeht der Télégraphe wie im Flug, und in der Senke von Valloire steigt auch bei uns wieder die Spannung. Voraus türmt sich der mächtige Gipfel des Grand Galibier, die folgenden siebzehn Kilometer auf die Passhöhe sind ein berauschendes Serpentinenfest par excellence. Der Vierzylinder schiebt die ZZR druckvoll und fast geräuschlos über die bunten Straßenmalereien zur Anfeuerung der Drahtesel-Helden. Unlesbar verwischen „Ulle“, „Lance“ und „Matze“ auf den kurzen Geraden unter dem Motorrad. Als Radfahrer bleibt bei vierzehn Prozent Steigung sicher genug Zeit die Anfeuerungen zu entziffern: Unendlich langwierig und qualvoll muss der Kampf gegen diesen Berg mit purer Muskelkraft sein. 

Vorbei an rot und grau schimmernden Geröllfeldern offenbart sich die wilde Schönheit des Galibier und gipfelt auf der Passhöhe in imposanter Weitsicht. Alternativ könnte der Scheitelpunkt durch einen Tunnel unterfahren werden. Schade eigentlich, denn dann verzichtet man bei klarer Sicht auf die letzte Chance, sich vom Zuckerhut des Mont Blanc im Nordosten und der Savoie endgültig zu verabschieden. Wir überqueren die Grenzlinie zur Region Dauphiné und stoßen acht Kehren bergab auf die gut ausgebaute Straße des almenbedeckten Col du Lautaret. Der 2058 Meter hohe Übergang bietet bei Schneefall eine bequeme Möglichkeit von der „Sommerroute“ Route des Grandes Alpes im Osten auf die westliche „Winterroute“ Route Napoléon Richtung Grenoble zu wechseln. Schon die Römer benutzten diese Verbindung zwischen ihrem Reich und Gallien. Von der Straßenkreuzung am Lautaret sind es gerade 28 kurvenfreie Kilometer in die zweithöchste Stadt Europas. Bereits unter Kelten, Römern und im Mittelalter hatte Briançon  eine strategisch herausragende Bedeutung.

Als Hauptstadt einer, „Escartons“ genannten, autonomen Steuerrepublik - einem Zusammenschluss von 52 Gemeinden der Briançonnais - wurde hier bereits im vierzehnten Jahrhundert die erste Festungsmauer finanziert. Nach einem Großbrand 1692 beauftragte Ludwig XIV. von Frankreich den Festungsbaumeister Vauban mit dem Wiederaufbau des Verkehrsknotenpunktes, um im Krieg gegen Savoyen ein uneinnehmbares Bollwerk zu schaffen. Der berühmte Architekt kleckerte nicht, sondern klotzte: Um die heutige Altstadt schuf er einen Festungsring mit mehreren kleinen Forts und eine dem Gelände angepasste, sternförmige Wehranlage. Nebenbei prägte er das Stadtbild samt Gotteshäuser nach seinem militärischen Geschmack. Vaubans Werk war effizient: Die Stadt auf einem Felsen über der Durance stoppte 1815, nach dem Sturz Napoleons, den Vormarsch der österreichisch-sardischen Armee und konnte bis zur Unterzeichnung des Pariser Friedens trotz geringer militärischer Stärke nicht eingenommen werden.

Bei einem Spaziergang durch die historische Oberstadt samt Zitadelle entdecken wir eine andere, in Zeiten des Friedens noch bedeutendere Stärke von Briançon: Das „savoir vivre“ ist hier noch Leitkultur der Franzosen - zahlreiche urige Restaurants im Gassengewirr des Zentrums locken mit kulinarischen Köstlichkeiten höchster Qualität. Wir schlemmen uns durch ein mehrgängiges „Menu Vauban“, ziehen Zwischenbilanz über die vielfältigen Schönheiten der Route des Grandes Alpes und fallen weit nach Mitternacht erschöpft in die Betten.

Eigentlich wollen wir die zweite Hälfte unserer Alpenüberquerung am nächsten Morgen im Bummeltempo über den – von den Einheimischen liebevoll „schizophren“ genannten - Col d’Izoard fortsetzen. Aber leider beginnt schon bei der Anfahrt zur Nordrampe des 2361 Meter hohen Berges die Gashand zu jucken, so einladend schwingt das Asphaltband vor uns bergwärts. Schwupps sind alle guten Vorsätze gemächlich durch die phantastische Landschaft zu gleiten im würzig nach Lärchenwald duftenden Fahrtwind verstreut. Die Kurven des Izoard scheinen von Motorradfahrern gebaut worden zu sein, Vergleiche mit einer Rennstrecke sind unvermeidlich. Bemühungen der Versuchung zu widerstehen sind allein wegen des griffigen Asphalts und der übersichtlichen Kehren zwecklos - bis zur Passhöhe haben Knieschleifer Dauerbetrieb. Wer das berauschende Panorama während der Auffahrt – wie wir – missachtet, für den lohnt sich der fünfminütige Fußmarsch auf die Anhöhe über dem Gipfelparkplatz: Als Belohnung für den Nerven belastenden Fahrstil und den „Gewaltmarsch“ zum Aussichtspunkt winkt ein imposanter Blick bis in das Piemont. Kurze Fotopause, bis der eiskalte Wind sich durch die Perforation des Lederkombis mogelt. War nicht eben noch August?

Einige Kehren weiter auf der Südrampe wird klar, warum der Col d’Izoard das Attribut „schizophren“ trägt: Die karge „Casse Déserte“ ist das landschaftliche Gegenteil der saftig grünen Nordseite. Aus riesigen Geröllteppichen wachsen vereinzelt Blöcke, Nadeln und Pyramiden aus rotbraunem, verwittertem Fels – eine ungewöhnlich faszinierende Mondlandschaft. Über den Col de Vars erreichen wir die Haute Provence, der Col de Cayolle führt uns in die Region Alpes Maritimes. Damit liegen die letzten zwei Pässe über 2000 Meter Seehöhe auf der Route des Grandes Alpes hinter uns. Hier im Süden duftet der warme Fahrtwind auf einmal nach Pinien, wildem Thymian und blühendem Lavendel. In den Schluchten von Cians erfahren wir zur Abwechslung das Gegenteil der grandiosen Bergweitblicke. Die purpurroten Felswände schwellen abschnittsweise über uns so eng zusammen, dass kaum noch ein Spalt Himmel zu sehen ist. 

Bis zum Mittelmeer folgen auf der französischen Hochalpenstraße noch ein halbes Dutzend atemberaubender Pässe. Mit der unvergleichlichen Bergkulisse im Norden können sie sich – trotz mediterranem Ambiente und vereinzeltem Meerblick - nicht ganz messen. In den Seealpen werden fehlende Höhenmeter durch die Quantität des Kurvengeschlängels wieder gut gemacht. Als Paradebeispiel darf der Col de Turini, bekannt von der Rallye Monte Carlo, nicht unerwähnt bleiben: Die Radien seiner unzähligen steilen Serpentinen machen jeder Kartstrecke Ehre. Sie sind so unvorstellbar eng, dass ich mit dem geringen Lenkeinschlag meines Supersport-Schlachtschiffes sehr zu kämpfen habe, um nicht am Kehrenausgang an der Felswand Kratzspuren zu hinterlassen.  Wer mit wendigem Gerät unterwegs ist, dem verspricht die quirlige Mademoiselle Magali aus der Touristeninformation in Sospel das Kurvenparadies auf Erden: „Auf dieser Karte sind zehn Pässe rund um den Ort eingezeichnet. Wenn du schnell bist, kannst du in zwei Stunden fertig sein – dann bleibt der ganze Nachmittag zum Baden im Meer!“ Eine Abkühlung im Ozean klingt verlockend: Wir verzichten gleich auf die Plackerei in den Minikurven und steuern direkt den Laufsteg der Reichen und Schönen an. In Menton endet die Route des Grandes Alpes im türkisgrünen Wasser der Côte d’Azur. An der französischen Riviera ließe es sich gut leben, vorausgesetzt man verfügt über den nötigen Zaster und ist bei sommerlichen 36 Grad im Schatten hitzebeständig. Wir sind auf kühle Gebirgstemperaturen geeicht und passen in unseren verschwitzten, dreckigen Lederkombis so gar nicht in die Welt der High Society. Nach einer lauten Nacht im pulsierenden Zentrum von Nizza starten wir die zweitägige Rückfahrt Richtung Mont Blanc. Diesmal werden wir statt des Col de Cayolle den Col de la Bonette weiter im Osten unter die Räder nehmen. Obwohl er nicht zur offiziellen Route des Grandes Alpes, sondern zur Route Imperial gehört, sollten Vollblut-Alpenüberquerer keinesfalls auf diesen Abstecher verzichten. Mit 2802 Metern Seehöhe ist die Cime de la Bonette der höchste befahrbare Pass Europas. Ihn bezwungen zu haben, ist die standesgemäße Vollendung einer abwechslungsreichen, unvergleichlichen Reise über die gewaltigsten Berge der Alpen.

Bildergalerie: Route des Grandes Alpes

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