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Schon gefahren: Kawasaki Versys 1100 SEReisebekanntschaft
Bereits seit 2012 ist die Versys 1000 bei Kawasaki im Programm. In den letzten Jahren wurde ihr angesichts der extrem erstarkten Konkurrenz im Crossover-Segment immer öfter ihre mit 120 PS vergleichsweise geringe Spitzenleistung vorgeworfen. Dabei war die Versys niemals schwach. Die Auslegung des Tausender-Reihenvierzylinders aus dem Sporttourer der Ninja 1000SX setzte auf ein breites Drehmomentband schon ab geringen Drehzahlen und verzichtete bewusst auf Leistungsexplosionen bei fünfstelligen Kurbelwellenumdrehungen.
Das Modelljahr 2025 bringt mit der Versys 1100 noch mehr von dieser Grundauslegung. Kawasaki hat sich entschlossen, den Motor nicht einfach aufzubohren, sondern ihm 3 Millimeter mehr Hub zu verpassen. Das führt neben dem größeren Hubraum – jetzt genau 1099 Kubik – zu 15 PS mehr Leistung (135 PS bei 9000 U/min) und wirklich spürbaren 12 Nm (112 Nm bei 7600 U/min) mehr Drehmoment. Außerdem wurden die Ansaug-Trichter und -Kanäle optimiert, um die Leistung im niedrigen und mittleren Drehzahlbereich zu verbessern.
Der längere Hub bedeutet letzten Endes, dass ein längerer Hebel auf die Kurbelwelle drückt, wodurch es bei gleicher Drehzahl mehr Drehmoment gibt. Das ist vor allem beim Touring eine feine Sache, weil der Vierzylinder jetzt noch seltener nach niedrigen Gängen verlangt. Mit weniger als 50 km/h im sechsten Gang durch eine Ortschaft zu gleiten, ist mit der Versys 1100 kein Problem. Daran wirkt sicher auch das im Vergleich zum Vormodell schwerere Schwungrad mit, das nebenbei auch zu weniger Vibrationen führt.
Dabei sind Gangwechsel dank des überarbeiteten Quickshifters jetzt noch simpler. Hinaufschalten geht immer problemlos, nur beim Hinunterschalten muss man doch vom Gas gehen, damit der Blipper seine Arbeit verrichtet. Für einen Crossover-Tourer geht das in Ordnung – schließlich ist die große Versys kein Renngerät, mit dem man am Ende der Start-Ziel-Geraden schnell drei Gänge hinunterdrücken muss, um den Anschluss nicht zu verlieren.
5,6 Liter/100 km sind der offizielle Verbrauch und das entspricht auch weitgehend dem, was wir während unseres Tests festgestellt haben. Mit dem 21-Liter-Tank sind über 350 Kilometer Reichweite also immer realistisch, solange man es im Winkelwerk nicht allzu flott angeht. Der Vierzylinder braucht zwar nur 9000 Touren, um seine 135 PS Spitzenleistung zu stemmen, aber wenn man das intensiver nutzt, können rasch auch 6,5 Liter auf der Verbrauchsanzeige stehen. Damit ist die Kawasaki aber keineswegs allein. Bei der unmittelbaren Konkurrenz von Suzuki (GSX-S1000 GX) und BMW (S 1000 XR) sieht es nicht anders aus.
Elektronische Assistenten sind jedenfalls bei den Varianten „S“ und „SE“ zahlreich vorhanden. Die individuell einstellbare KTRC-Traktionskontrolle und die Kawasaki Cornering Management Function (KCMF) kümmern sich um alles, was mit Schlupf beim Beschleunigen und Bremsen zu tun hat. Gut abgestimmt haben wir die verschiedenen Leistungs- und Fahrmodi vorgefunden. Wobei der linear, vorhersehbar und ohne übertriebene Leistungsexplosionen arbeitende Vierzylinder im Prinzip auch mit einer einzigen Abstimmung auskommen würde, ohne dass man als Fahrer etwas vermisst.
Das semiaktive Fahrwerk KECS hat uns im Praxisbetrieb durch seine wirklich gelungene Nivellierung der sonst spürbaren Erschütterungen auf schlechten Straßen überrascht. Dabei geben sich die Dämpfungselemente nicht etwa teigig und unpräzise, sondern halten die Versys 1100 SE gleichzeitig bequem und transparent auf der gewählten Spur.
Dabei ist das System je nach persönlichen Vorlieben einstellbar. Sogar mit montierten Koffern haben wir keinerlei Pumpen im Heck oder sonstige Unwilligkeiten festgestellt. Ohne vorort den direkten Vergleich gehabt zu haben, meinen wir trotzdem, dass das KECS von Kawasaki den semiaktiven Systemen beispielsweise auf Hondas Africa Twin und Suzukis GSX-S1000 GX überlegen ist.
Grundsätzlich wertet das KECS die Daten der Federwegsensoren aus und gleicht sie mit Informationen des Ride-by wire Systems ab (Motor ECU, Bremsdruck, ABS-Sensoren, Schräglage, Gierrate). Auf dieser Basis wird automatisch und in Übereinstimmung mit dem jeweils gewählten Rider-Mode die Druck- und Zugstufendämpfung angepasst. Ob es dabei in einigen Details tatsächlich effektiver arbeitet als die Systeme der erwähnten Mitbewerber, muss erst ein ausgiebiger Vergleichstest ans Licht bringen.
Connectivity ist bei den „S“ und „SE“ Modellen Standard. Die von Kawasaki entwickelte Rideology-App bietet per Bluetooth-Anbindung in etwa das, was man auch vom Mitbewerb mittlerweile gewohnt ist. Mit ihr kann man auch auf diverse Funktionen und Einstellungen des Motorrads zugreifen und Daten wie den Kilometerstand, die Tankanzeige oder das nächste Service-Intervall abrufen. Als elektronischer Fahrtenschreiber speichert sie Details wie die Route, die Motor-Drehzahl oder den jeweils eingelegten Gang. Auch die Einstellungen des Displays können per App gesteuert werden (Maßeinheit, Datum oder Zeit).
Das Design des Cockpits ist diskussionswürdig. Beim Standard-Modell dominiert auf der linken Seite ein Rundinstrument für die Drehzahlanzeige, das teilweise von einem einfarbigen TFT-Display überdeckt ist. Bei den S- und SE-Modellen gibt es ebenfalls einen klassischen Drehzahlmesser, der von einem größeren Farb-TFT-Display durchbrochen wird. Grundsätzlich finden wir das begrüßenswert, weil Rundinstrumente mittlerweile quasi zu einer aussterbenden Spezies gehören. Gleichzeitig sind die immer größeren und kontrastreicheren Displays der Mitbewerber auf einem derart hohen Niveau angekommen, dass man jedenfalls auf einem von klassischen Ambitionen unberührten Reisemotorrad nichts vermisst, wenn kein Rundinstrument an Bord ist.
Am Ende ist es eine Frage des Geschmacks, ob man die Kombination aus alter und neuer Anzeigetechnologie mag. Eine Einschränkung des Funktionalität haben wir deshalb jedenfalls nicht festgestellt. Allenfalls das kleine einfarbige Display am Standardmodell ist dann vielleicht doch eine sichtbare Sparmaßnahme.
Wirklich neu ist die Sprachsteuerung. Per Bluetooth-Set im Helm kann man typische Connectivity-Aufgaben wie das Wählen von Telefonkontakten oder die Steuerung von Musik mit einfachen Sprachbefehlen erledigen. Sogar die Echtkarten-Navigation ist damit ansteuerbar und findet über die Spracheingabe beispielsweise typische Ziele wie Tankstellen und Restaurants oder auch bestimmte Adressen. Wir haben dieses neue Ausstattungsdetail noch nicht getestet und sind gespannt, wie es sich in der Praxis bewährt. Alternativ funktioniert die Steuerung natürlich auch gut über die Tasten an den Lenkerarmaturen.
Kawasaki hat den Zauberlack. Das ist kein Witz: Die Versys 1100 wird mit einer Speziallackierung ausgeliefert, die gegen typische kleine Kratzer immun sein soll. Dahinter steckt ein Selbstreparatureffekt der Lackierung, dank dessen sich gewisse Kratzer nach einiger Zeit wieder verschließen. Natürlich hat das seine Grenzen, aber die typischen Minikratzer am Tank oder überall, wo man beim Reinigen etwas zu unvorsichtig war, sollen damit in den Griff zu bekommen sein.
Drei Modellvarianten bietet Kawasaki für die Versys 1100 an. Das Standardmodell verzichtet auf diverse Ausstattungsmerkmale (vor allem auf das semiaktive Fahrwerk) und macht das mit einem wirklich sensationellen Preis wieder wett: Schon für 15.149 Euro kann man sie inklusive aller Nebenkosten beim Händler abholen. Die Versys 1100 S kostet 16.849 Euro, ist in zwei Farben erhältlich und bringt Details wie den neuen Quickshifter, das LED-Kurvenlicht, Connectivity, mehrere Fahrmodi und ein hochwertiges TFT-Farbdisplay mit. Aber auch die Luxusvariante „SE“ reißt kein übermäßiges Loch in die Finanzplanung, jedenfalls im Vergleich mit dem Mitbewerb: 18.549 Euro sind für die Vollausstattung inklusive semiaktivem Fahrwerk fällig.
Preise (Österreich):
Versys 1100: € 15.149,-
Versys 1100 S: € 16.849,-
Versys 1100 SE: € 18.549,-