BMW R 12 vs Harley NightsterWie Tag und Nacht
Sie lassen nicht locker. Sie wollen ihn, den Cruiser; gegen jeden Widerstand. Und dieser ist für viele ein Zweizylinder in Boxer-Bauweise. Sowas kommt einem beim entspannten Beineausstrecken auf der 66er schon mal in die Quere und man kann den Blick auf das Monument Valley nicht mehr so richtig genießen. Trotzdem ist die fünfköpfige R-18 Familie nicht genug, jetzt gibt es auch wieder einen Mittelklasse-Cruiser (in Cruiser-Hubraum-Dimensionen gesprochen).
Der heißt in ebenso schlichter Nomenklatur R 12 und steht der in R 12 nineT umgetauften R nineT zur Seite. Gleiche Basis, unterschiedliche charakterliche Ausprägung. Angetrieben werden beide vom 1170 Kubik großen Boxermotor, der im Roadster 109 PS und 115 Newtonmeter, im Cruiser 95 PS und 110 Newtonmeter leistet. Keine Variation auch beim nun einteilig ausgeführten Gitterrohr-Hauptrahmen mit angeschraubtem Heckrahmen und der nochmals erhöhten Zugänglichkeit für Customisierungen. Die Airbox ist jetzt unter der Sitzbank integriert, die mit 754 Millimeter um 41 Millimeter tiefer liegt als auf der nineT.
Die Fahrmodi (Rock und Roll) übernimmt die R 12 von der R 18, abzüglich Rain-Modus. Eine abschaltbare dynamische Traktionskontrolle, ein teilintegrales, schräglagen-sensitives ABS Pro und die Motorschleppmoment-Regelung sind ebenfalls serienmäßig. Während der Tachometer noch klassisch als analoges Rundinstrument (mit kleinem LCD-Fenster) ausgeführt ist, funktioniert die Inbetriebnahme ohne Schlüssel. Schließlich kann man diverse Elektronik an einer USB-C- und 12-V-Steckdose anschließen. Eine solide Grundausstattung also, doch wer den Online-Konfigurator startet, der wird erkennen, dass auch dieses Modell – wie heute viele andere – nicht mehr als Zweisitzer ausgeliefert wird. Der Aufpreis fällt mit 231 Euro noch ziemlich glimpflich aus.
Solo ist man zunächst auch mit der amerikanischen Alternative unterwegs. Der neueste Schmäh: Dort zahlt man sogar schon für die schwarze Farbe, Vivid Black genannt. Für den Grundpreis bleibt die Nightster grau. ABS und ebenfalls abschaltbare Traktionskontrolle sind nicht Schräglagen-sensitiv. Außer dem Lack waren auf unserem fast jungfräulichen Testfahrzeug sonst keine Extras zu finden, im Gegensatz zum Pressebike von BMW, wo wie gewohnt fast alles verbaut ist, was das Original-Zubehörprogramm hergibt (siehe Datenkasten). Damit liegt der Gesamtpreis über 20.000 Euro und deutlich über jenem der Harley. Ein billiger Spaß sind sie beide nicht, mit dem Unterschied, dass die Nightster den Einstieg in die Welt von Harley-Davidson markiert. Eine hohe Treppe.
Doch was bekommt man jetzt tatsächlich für sein Geld? Auf der Harley ziemlich sicher bald Rückenschmerzen. Denn die Ergonomie ist äußerst atypisch. Entweder ist der 705 Millimeter hohe Sitz zu weit hinten, oder der Lenker ist zu weit vorne, jedenfalls bildet der Körper des Fahrers ein U, und das steht seit jeher für ungut. Noch extremer geht es, wenn die Fußrasten, die sich hier eher in der Mitte befinden, nach vorne versetzt werden. Man kennt das von diesen extrem tiefer gelegten Custombikes ohne Heck und mit 330er-Hinterreifen. Wie man so eine Haltung länger als eine Meile aushält, bleibt uns ein Rätsel.
Wir müssen anmerken, dass ein Rucksack voll mit unserer Kamera-Ausrüstung für zusätzliche Belastung sorgte. Trotzdem sitzt man auf der R 12 wesentlich entspannter und würdevoller, wenn man auch kaum vermuten würde, auf einem Cruiser zu sitzen. Und genau genommen ist sie ein Zwitter, denn obwohl ihre Sitzhöhe gegenüber der nineT um zirka 40 Millimeter und die Federwege um je 30 Millimeter geschrumpft sind, stößt man mit den Möglichkeiten der geometrischen Veränderungen schnell an die Grenzen, ohne den Rahmen neu zu konstruieren. Das ist der Grund für das leicht unharmonische Gesamtbild, in das sich auch der historische ‚‚Toaster“-Tank nicht so recht einfügen will. Aber die R 12 ist wandlungsfähig und kann je nach Ausführung von der Nullnummer zur Perfect 10 aufsteigen. Einen Riesenunterschied macht hier zum Beispiel schon das kurze Heck, das kostet aber auch gleich fast 1300 Euro.
Die Harley wirkt mehr wie aus einem Guss, an ihr stören vor allem die vielen billigen Plastikteile und die unsauber verlegten Kabel. An die Simplizität und zeitlosen Geschmackssicherheit der alten luftgekühlten Sportster-Modell werden die Wasserkühler leider nie wieder heranreichen, gerade deshalb wäre es angebracht, sauberer zu (ver)arbeiten.
Um auch die fahrerischen Qualitätsunterschiede penibelst herauszufiltern, haben wir uns diesmal für eine Zwei-Länder-Tour durch Österreich und die Slowakei entschieden, wo wir auf beiden Seiten eine der jeweils bekannten Hausstrecken durchquerten. Holla, die Waldfee! Auch jenseits der Grenze gibt’s Wahnsinnige. Allerdings auch sehr feinen, griffigen Asphalt mit wunderschönen Kurven. Sparen Sie sich an dieser Stelle Ihr Mitleid, man braucht keine Supermotos oder ein Hyper-Nakeds, um auf den Biker-Bergen Spaß zu haben.
Die möglichen Schräglagen setzen diesem zwar Grenzen, doch mit entsprechender Beherrschung und Vorsicht offenbart sich eine faszinierende Dynamik, die man – mit Verlaub – vor allem der Harley nicht zugetraut hätte. Ihr Bild täuscht ein wenig. Sie sieht durch den niedrigeren Sitz und die geduckte Front nur deutlich länger aus, ist es aber nur in geringem Maße. Auch die Lenkkopfwinkel sind fast ident. Und sogar die Schräglagenfreiheit dürfte – zumindest mit den bei der BMW montierten Angstnippel – ähnlich groß, oder klein sein, je nach Sichtweise. Der Unterschied: Bei der Harley bleibt nach dem Aufsetzen der Fußrasten weniger Toleranzbereich, bis wirklich harte Teile aufsetzen.
Durch die unterschiedlichen Sitzpositionen ergeben sich natürlich auch völlig konträre Fahrweisen. Die R 12 mutiert hier endgültig zum Naked Bike, man schüttelt die auf den R-nineT-Derivaten erlernten Bewegungsabläufe aus dem Ärmel, packt den Stier bei den Hörnern und treibt ihn die Almen hoch und runter. Auf der Nightster weiß man dagegen zunächst nicht so recht, wie man tun soll. Alles mag zwar irgendwie, aber nicht so ganz zu funktionieren. Drücken, schneiden, legen? Oder gar Hang-Off? Zum Glück kommt einem die stabile Straßenlage der Amerikanerin entgegen.
Wer genau fährt, die Eingänge richtig trifft und es nicht übertreibt, der wird gut durch und an der richtigen Stelle wieder aus der Kurve kommen. Korrekturen sind nämlich schwieriger aus den eben genannten Gründen. Damit das alles aber überhaupt gelingt, braucht es einen gepflegten Asphalt, denn fürchtet Euch vor Wellen, Stufen und Rissen in den Radien! Da kann es einen schon mal leicht versetzen, weil das straff abgestimmte Fahrwerk nicht sehr viel Energie von diesen Schlägen aufnimmt – das tun die Bandscheiben. Auch versenkte Kanaldeckel und Schlaglöcher sind tunlichst zu meiden. Das Fahrwerk der BMW kann zwar vor allem im Heck mehr aufnehmen, neigt aber unter Druck zum Schaukeln, wofür auch der Kardanantrieb verantwortlich zeichnet. So zieht die Harley im direkten Vergleich den saubereren Strich, wenn auch der BMW nicht davon.
Ab 5000 Touren bläst sich der Revolution-Max-Motor zum Presslufthammer auf und beschenkt den forschen Fahrer mit beeindruckenden Beschleunigungsorgien und erinnert mehr an den legendären Power-Cruiser V-Rod denn an eine Sportster. Unter Drehzahlmitte verhungert man, während der Drehmoment-Busen der Bayerin schon in voller Blüte steht. Als zu lang übersetzt empfanden wir außerdem die Getriebeübersetzung der Nightster. Einen kleinen Vorteil hatte die BMW auch mit dem montierten Schaltautomaten, der an diesem Boxer wieder sehr gut funktionierte, was ja nicht immer der Fall ist.
Rennen gewinnt man aber bekanntlich auf der Bremse und auch hier erreicht man ähnliches auf unterschiedliche Weise. Das teilintegrale Bremssystem der BMW ermöglicht beim Verzögern zwar die größtmögliche Stabilität und unterstützt vom Kurven-ABS auch die höchste Sicherheit, es fehlt ihm aber an feiner Dosierbarkeit, besonders beim ersten Anlegen. Die Harley schwächelt dagegen etwas mit nur einer Bremsscheibe, dafür baut sich der Bremsdruck viel gleichmäßig-progressiver auf.
Irgendwann ist aber jede Hausstrecke zu Ende und es geht wieder raus aufs Land, zurück in die Heimat. Nachdem wir am Grenzübergang Angern mit der Fähre übergesetzt haben und uns im „Das Leben ist schön“-Imbiss gestärkt haben, genießen wir auf den kilometerlangen Geraden nach Marchegg die sanfte, müde werdende Sonne und erinnern uns, dass ein Cruiser auch das können muss: geradeaus und gerade deshalb glücklich. Man ist dann sehr froh, auf der R 12 zu sitzen, die einen, begleitet vom sonoren Boxer-Bass, fast in den Schlaf wiegt.
Doch die Tankanzeige reißt uns aus den Tagträumen. Zum zweiten Mal tanken wir, diesmal nach 165 Kilometern. Beide Motorräder verbrauchten auf dieser Etappe 5,6 Liter, während die BMW am Digital-Display mit 5,3 etwas untertrieb. Eine Reichweitenanzeige haben wir übrigens nur an der Harley gefunden, die hat sie aber auch bitter notwendig.
Für beide Marken stellt das jeweilige Modell quasi einen Neuanfang dar. Wie eingangs erwähnt kämpft BMW weiter um Respekt und Akzeptanz im Cruiser-Segment, während Harley dabei ist, sowas wie eine neue Einsteigerklasse zu etablieren, beiderseits ein schwieriges Unterfangen. Da stören Marke und Motor, dort Preis und Motor. Warum es Harley nicht gelungen, einen modernen Luftkühler für seine Sportster zu entwickeln, ist uns schleierhaft. Und fragwürdig ist auch die R 12 als Modellkonzept. Für unseren Geschmack hätte man es gleich konsequenter und radikaler umsetzen sollen.
Aber die guten Nachrichten, lässt man mal die Kosten außer Acht: Aus beiden lässt sich was machen und mit beiden kommt der Fahrspaß nicht zu kurz. Diese Genussrunde wird uns für immer in Erinnerung bleiben. Vielleicht muss der zähe Absatz solcher Modelle in unserer Zeit anders erklärt werden: Nicht sie haben sich verändert, sondern wir.