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KTM 890 Duke TestMehr Lunge
Text: Clemens Kopecky, Fotos: Andreas Riedmann
Nicht nur Dr. Artur Worseg, Jörg Knabl, Dagmar Millesi und die TV-Schönheitschirurgen aus „Nip/Tuck“ (Deutsch: „Schneiden und Zusammenraffen beim Facelifting) schnippeln sich mit ihren Skalpellen erfolgreich in die Liga der oberen Zehntausend. Auch dem orangen Großkonzern aus Mattighofen spült das Präzisionsinstrument zum Durchtrennen von Geweben ordentlich Profit in die Kasse: Alleine vergangenes Jahr wurden 521 Exemplare der 790 Duke – von den KTM-Marketingprofis mit dem Spitznamen „Skalpell“ geadelt – in Österreich verkauft. Addiert man dazu 246 Stück der 890 Duke R, mausert sich das scharfe Mittelklasse-Nakedbike zu Österreichs zweitbeliebtestem Motorrad – nur geschlagen von der allmächtigen BMW R 1250 GS.
Der Modellwechsel von 790 zu 890 Duke könnte allerdings selbst bei Experten der Materie für spontante Verwirrung sorgen. Denn bereits im Frühjahr 2020 war die edle, 13.899 Euro teure R-Version einer 889-Kubik-Variante präsentiert worden – erst jetzt, knapp ein Jahr später, folgt die dazugehörige, Euro-5-konforme Basisversion um wohlfeile 12.099 Euro, die nun in der Produktpalette endgültig den Platz der 790 Duke einnimmt. Die Brennraumvergrößerung verhilft der Standard-Duke ab sofort zu potenten 115 statt der bisherigen 105 PS, das Drehmoment wächst von 87 auf 92 Newtonmeter.
Gleich eines vorweg, bevor wir uns der profanen Leistungsverherrlichung schuldig machen: Den größten Praxisunterschied im Fahrverhalten zwischen 790 und 890 Duke macht die um 20 Prozent vergrößerte Schwungmasse an der Kurbelwelle des Reihenzweizylinders. Sie verhilft der 890 Duke (wie schon ihrer in den Ausgaben 4 und 5/2020 ausführlich behandelten R-Schwester) zu ungeahnter Kultiviertheit bei niedrigen Drehzahlen.
Dass die 890 Duke beim Direktvergleich mit ihrer 790er-Vorgängerin rein technisch in allen Belangen die Nase vorne hat, versteht sich fast von selbst und braucht an dieser Stelle nicht in alle Details zerpflückt werden. Nicht unerwähnt wollen wir jedoch lassen, dass die viel gelobte 790 bei ihrem Marktstart bereits zum fairen Basispreis beinahe mit Elektronik-Vollausstattung ausgeliefert wurde. Für die 890 Duke orientiert sich KTM jetzt dagegen an dem lukrativeren Konzept der R-Version: Viel Nützliches und Begehrenswertes ist ab nun aufpreispflichtig.
Alleine der Quickshifter+ schlägt mit zusätzlich fast 400 Euro zu Buche. Da erweist sich das „Tech Pack“ (enthält Quickshifter+, Track Pack, Motorschlupfregelung) um rund 737 Euro als klügere Lösung. Zusätzlich werden zum Beispiel knapp 100 Euro für die Schnittstelle zur Smartphone-Koppelung fällig. Wer einen Tempomat will, zahlt 245 Euro extra. Unterm Strich knackt man mit der 890 Duke die 13.000-Euro-Schallmauer schneller als einem lieb sein dürfte. Gleich zur Edel-Version zu greifen, bringt übrigens keinen Kostenvorteil: Die genannten Aufpreise fallen analog auch bei der 890 Duke R an.
Worauf man bei der Anschaffung der Skalpell-Basisversion im Direktvergleich zum „Super-Skalpell“ verzichtet, ist schnell aufgezählt: Auf sechs PS und 7 Newtonmeter Power, 14 Millimeter Sitzhöhe und jene edle Hardware, die die 890 Duke R für den ambitionierten Rennstrecken-Einsatz prädestinieren. Hand aufs Herz: Wer ausschließlich auf der Landstraße fährt, wird den flacheren Lenker der R-Version, die radikale Michelin Powercup-2-Bereifung oder die Monoblock-Bremszangen aus der Brembo-Stylema-Serie mit großen 320 Millimeter Bremsscheiben kaum vermissen.
Denn in puncto Abstimmung haben die KTM-Entwicklungsingenieure bei der neuen Standard-Variante der 890 ganze Arbeit geleistet und unter anderem die Dämpfung der WP-Komponenten im Vergleich zur 790 Duke spürbar optimiert. So lässt sich der kostensparende Verzicht auf ein voll einstellbares Fahrwerk für durchschnittlich schwere Piloten ohne Racing-Ambitionen problemlos verkraften. Nur wer den Winterspeck noch nicht ganz losgeworden ist oder viel mit Beifahrerin unterwegs ist, investiert besser in das (fast) voll justierbare Chassis der R-Version.
Ihre längeren Gabelholme und das in Hi- und Low-Speed justierbare Federbein heben sowohl den Schwer- also auch den Schwingendrehpunkt deutlich. Die konventionelle 890 Duke brilliert dagegen im Tourenbetrieb mit höherem Komfort und bügelt selbst ruppiges Asphalt-Flickwerk souverän glatt. In der Kurve kommt sie auch bei abrupten Schlägen kaum von der anvisierten Linie ab, wofür zum Teil wohl auch der WP-Lenkungsdämpfer verantwortlich zeichnet. Die ContiRoad-Erstbereifung überzeugt selbst während unserer frostigen März-Testfahrt mit neutralem Handling, kurzer Aufwärmphase und tadellosem Grip.
Die beiden radial montierten Vierkolben-Festsättel mit KTM-Logo an der Front dürften von J. Juan zugeliefert werden und sind weit über den straßenlegalen Geschwindigkeitsbereich hinaus selbst mit viel Ehrgeiz nicht ans Limit zu bringen. Mit knackigem Druckpunkt nehmen sie die 300-Millimeter-Stahlscheiben fein dosierbar in die Zange und zügeln sogar bei Topspeed 237 km/h effizient das Temperament der 188 Kilo leichten 890 Duke. Als vorbildlich erweist sich außerdem die Griffweitenverstellung an Brems- und Kupplungshandhebel, die stufenlos und fein regulierbar ist.
Wie gewohnt wacht auch bei der 890 Duke ein serienmäßiges Kurven-ABS souverän über jedes Bremsmanöver, der ab Werk freigeschaltete Supermoto-Modus erlaubt auf Wunsch das Blockieren des Hinterrades. Die Sensibilität der abschaltbaren, schräglagenabhängigen Traktionskontrolle ist grundsätzlich an die drei Fahrmodi (Sport, Street, Rain) gekoppelt.
Ausschließlich mit dem optionalen Track-Pack (343,32 Euro oder Teil des „Tech Pack“) lassen sich individuelle Anpassungen an der neunstufigen Schlupfregelung und der Gasannahme vornehmen, der Anti-Wheelie-Modus ausschalten und eine Launch Control aktivieren. „Nice to have“, wie es so schön heißt – aber höchstens im Ring-Einsatz wirklich notwendig. Bei unserer ersten Testfahrt im knackig gepolsterten Sattel der 890 Duke waren wir mit den Voreinstellungen im Sport- und Street-Modus völlig zufrieden.
Dank ihres fabulösen Zweizylinder-Schubs feuert die 890 Duke gleichmäßig und äußerst unterhaltsam aus den Ecken. Sogar im City-Betrieb gibt sich die athletische Oberösterreicherin keine Blöße: Die Lastwechsel fallen besonders im Street-Modus geschmeidig aus, die nun schwerere Kurbelwelle sorgt für feinste Manieren selbst im Bummeltempo – ein erfreuliches Phänomen, das bei unserem Testteam ja bereits beim kürzlichen Modell-Upgrade von 790 auf 890 Adventure auf durchwegs positive Resonanz gestoßen ist und auch dem Naked Bike aus Oberösterreich überaus gut tut. Mit 4,8 Litern bleibt der Benzin-Durst des Paralleltwins stets bescheiden.
Erst nach mehr als 280 Kilometern wird ein dringender Stopp an der Zapfsäule fällig. Eine Distanz, die im Tourenbetrieb dank kommoder Ergonomie mit aufrechtem Rücken und moderatem Kniewinkel völlig schmerzfrei zu bewältigen ist. Auch Großgewachsenen bietet der KTM-Roadster ausreichend Bewegungsfreiheit. Wie bei der R-Version lässt sich auch bei der Standard-Duke der Abstand wischen Fahrer und Steuer vierfach adaptieren. Je nach Wunsch sind wahlweise mehr Komfort oder Vorderradbezug möglich.
Mit entsprechenden Anpassungen an der Sitzposition und den Reifen darf man dem Skalpell daher auch guten Gewissens einen Track-Day auf der Rennstrecke zumuten – zumindest sofern der Fahrspaß und nicht die Rundenzeit im Fokus steht. So bleibt im Allround-Einsatz unterm Strich kaum etwas übrig, wozu die 890 Duke kein geeigneter Untersatz wäre. Als vielseitiges Universaltalent im orangen Portfolio ist sie ein mehr als würdiger Nachfolger für die erfolgreiche 790 Duke – und hat gemeinsam mit ihrem R-Pendant damit beste Chancen den Titel „beliebtestes Naked Bike Österreichs“ erfolgreich zu verteidigen.