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BMW F 900 XR im TestAsphaltcowboy
Wir befinden uns irgendwo im bergigen Hinterland von Almeria in Spanien. Wo im Sommer Heerscharen von Andalusien-Touristen mit ihren Leihwägen über die geschlungene Landstraße schleichen, begegnet mir jetzt nur gähnende Leere. Wer sich zu dieser Jahreszeit hier auf die Straße legt, wird wohl eher verhungern als von einem Pkw überrollt werden. Kein Wunder, sieben Grad Außentemperatur und strömender Regen laden aktuell kaum zu Ausflügen ein, schon gar nicht mit einem Motorrad. Das Wetter im Jänner gleicht einem Lotteriespiel, und BMW hat bei der Weltpremiere der neuen F 900 XR ganz offensichtlich kein großes Glück. Schade, denn die „kleine“ XR ist 2020 völlig neu in der Produktpalette der Bayern und soll das Erfolgsrezept der S 1000 XR nun auch in die Mittelklasse transferieren:
Im Unterschied zum vierzylindrigen Premium-Modell der Adventure-Sports-Kategorie mit XR-Typenbezeichnung wurde das Hauptaugenmerk beim Midsize-Modell F 900 XR keineswegs auf „Race DNA“ gelegt. Während der Entwicklungsphase waren viel mehr Handling, Ergonomie und vor allem auch die attraktive Preisgestaltung im Fokus der Bayern. Für nur 12.750 Euro kann man sich eine reisefertige F 900 XR mit 895 Kubik, 105 PS und 92 Newtonmetern samt ABS, Schlupfregelung, 2 Fahrmodi und riesigem 6,5-Zoll-TFT-Display in die heimische Garage stellen. Wer auf das volle High-Tech-Ornat unseres abgebildeten Testfahrzeugs Wert legt, knackt – dank BMW-typisch umfangreicher Aufpreisliste - dennoch knapp die 16.000-Euro-Marke.
Das „Aktiv-Paket“ um 628 Euro beinhaltet zum Beispiel Kurven-ABS, die dynamische Traktionskontrolle plus zwei weiterer Dynamik-Fahrmodi, eine Motorschleppmomentregelung, Heizgriffe und dezente Kofferhalter. Das verbaute Dynamik-Paket um 682,99 Euro wertet das Bike außerdem um den Schaltassistent Pro (up & down), Tagfahrlicht und ein adaptives Kurvenlicht auf. Dynamic-ESA (justiert elektronisch die Vorspannung und Dämpfung des Federbeins), einen Hauptständer und Keyless-Go gibt es um 738 Euro im Komfort-Paket. Tempomat und Navi-Vorbereitung schlagen optional mit 452 Euro im Touring-Paket zu Buche.
Ob all diese Investitionen tatsächlich unverzichtbar sind, muss jeder potenzielle Käufer für sich selbst abwiegen und hängt letztlich nicht nur vom Budget sondern auch vom persönlichen Einsatzbereich ab.
Über die technische Basis der F 900 XR und ihrer Roadster-Schwester F 900 R haben wir bereits hier berichtet. Schwingen wir uns daher in GoreTex gepackt nun gleich in den nassen Sattel und dirigieren das bayerische Adventure-Sportsbike durch Dauerregen in Richtung schneebedeckter Gipfel am Horizont. Der hellgraue Asphalt vor dem Vorderrad glänzt regennass und es ist beruhigend zu wissen, dass das Testfahrzeug nicht nur mit konventionellem ABS und der serienmäßigen Stabilitätskontrolle ASC (vergleicht ausschließlich die Raddrehzahlen) ausgerüstet ist. Viel zu tun haben Kurven-ABS und DTC jedoch nicht. Bei jeder Gasgriff-Bewegung brilliert der Reihenzweizylinder mit hervorragend dosierbarem, gleichmäßigem Vortrieb, ganz ohne Intervention der elektronischen Helferleins.
Hand aufs Herz: natürlich kann die „kleine“ XR in punkto Explosivität nicht mit ihrem 165 PS starken Vierzylinder-Pendant der Premium-Klasse mithalten – das muss sie aber auch nicht. Der F 900 XR fehlt es nicht an Sportlichkeit, im Gegenteil. Ihr Mittelklasse-Reaktor stellt anschaulich unter Beweis, dass auch vergleichsweise vernünftige 105 PS im Tourenbetrieb niemals langweilig werden.
Zwischen 4500 und 8500 Touren sind stets mehr als 87 Newtonmeter spontan abrufbar, hier liegt eindeutig der Wohlfühlbereich des frisch überarbeiteten Paralleltwins. Doch auch beim untertourigen Beschleunigen aus dem Drehzahlkeller generiert der Reihen-Zweizylinder ohne Murren satten Vortrieb und erlaubt so erstaunlich schaltfaules Dahingondeln. Selbst bei nervösen Gas-Korrekturen im Kurvenradius lassen sich kaum Lastwechselreaktionen provozieren, seidig und elastisch hängt die F 900 XR am Gas.
Obwohl Schwungmasse und Getriebeabstufung im Vergleich zur Reiseenduro F 850 GS unangetastet geblieben sind, harmoniert die gewählte Abstimmung ebenso großartig mit reinem Asphalt-Betrieb und den abwechslungsreichen Kurvenradien Andalusiens. Besonderes Lob verdient an dieser Stelle der optionale Quickshifter, der bereits für die F 850 GS verfügbar war, nun für den Einsatz an der F 900 XR jedoch spürbar optimiert wurde: Schaltvorgänge in beide Richtungen klappen nun völlig klaglos und geschmeidig. Auch den sensationell kompakten Schalldämpfer mit kernigem (aber niemals lautem) Sound wollen wir nicht unerwähnt lassen: ihn durch einen schöneren Endtopf zu ersetzen, dürfte selbst die namhaften Hersteller von Tuning-Auspuffanlagen vor eine diffizile Aufgabe stellen.
Die Bisskraft der Brembo-Frontbremszangen ist selbst auf nasser Fahrbahn kristallklar dosierbar, bei sportlicher Verzögerung auf trockener Straße dürfte ebenfalls keinerlei Kraftmangel zu beklagen sein. Das Eintauchen der nicht einstellbaren Gabel bleibt beim beherzten Ankern erstaunlich moderat, obwohl die rund 17 Zentimeter Federweg der Fahrwerkskomponenten sämtliche Fahrbahnunebenheiten effizient neutralisieren: beinahe wie eine Sänfte gleitet das Adventure-Sportsbike über Asphalt-Flickwerk.
Fast so wendig wie eine Supermotard lässt sich die F 900 XR trotz ihrer fahrfertig 219 Kilo um engste Ecken bugsieren. Kräftige Steuerimpulse am breiten Lenker kann man sich getrost sparen: Das Einlenkverhalten der kompakten XR ist absolut widerstandslos, Schräglagen werden neutral und ohne Kipp-Tendenz absolviert. Die schlanke Form des 15,5-Liter-Kunststofftanks erlaubt einen kompakten, engen Knieschluss und damit präzise Kontrolle beim Treffen der anvisierten Linie.
Anlass für Kritik liefert der per Kipphebel zweifach höhenverstellbare Windschild. Voll ausgeklappt hält er kalten Fahrtwind zwar vom Oberkörper fern, der Helm ist (bei 180 Zentimetern Körpergröße) dem beutelnden Fahrtwind jedoch schutzlos ausgesetzt.
Ebenfalls als nicht ganz perfekt erweist sich das optisch knackige Heck der F 900 XR, bei dem ein Teil der Touren-Funktionalität zugunsten eines rassigen Fahrzeugdesigns geopfert wurde. Bei starkem Regen kann die gekappte Hinterradabdeckung die Gischt vom Reifen nicht ausreichend ableiten, der Rücken des Piloten und gegebenenfalls ganz besonders die Sozia werden vom Spritzwasser beschmutzt.
Damit sind wir mit dem Nörgeln auch schon wieder fertig: zum Abschluss wollen wir lieber noch den überdurchschnittlichen Komfort am Fahrersitz lobend erwähnen. Zwar dürfte im Direktvergleich die F 850 GS vermutlich den noch bequemeren Arbeitsplatz offerieren, dennoch lassen sich mehrtägige Touren auch mit der F 900 XR ergonomisch einwandfrei absolvieren. Trotz der relativ niedrigen 825 Millimeter Standardsitzhöhe (775 bis 870 Millimeter mit Zubehör-Sitzbänken) und sportlicher Fußrasterposition fällt der Kniewinkel moderat aus. Der Lenker streckt sich dem Piloten freundlich entgegen, die Wirbelsäule muss sich nicht nach vorne krümmen. Auch die straffe Polsterung der Sitzbank erweist sich auf der Langstrecke wider erwarten als einwandfrei: Der clever geschnittene Sattel verteilt das Fahrergewicht orthopädisch vorbildlich ohne dabei die Bewegungsfreiheit durch üppige Formen einzuschränken.
Das Resultat der ersten Testfahrt lässt keinen Zweifel daran: Die Blau-Weißen wissen nicht nur in den oberen Preissegmenten ganz genau, wie man grandiose Fahrmaschinen auf die Räder stellt. In der Mittelklasse bietet BMW mit der neuen F 900 XR allen Tourenfahrer ohne Offroad-Ambitionen ab sofort ein hervorragendes Reisemotorrad mit fairer Preisgestaltung, das obendrein ab Werk angepasst und auf Wunsch mit sämtlichen verfügbaren Technik-Highlights des BMW-Sonderausstattungsprogramms aufgerüstet werden kann. Weil wir diesmal jedoch wetterbedingt mit der kleinen XR ungewohnt gnädig sein mussten, freut sich das MM-Testteam schon jetzt auf den nahenden Frühling: dann werden wir der kleinen XR im Vergleich mit der Konkurrenz die Daumenschrauben spürbar fester anziehen und dabei ihr volles Potenzial endgültig ausloten.