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Honda NT1100: Erster TestVoll auf Touren
Seit wir die ersten Fotos und Daten gesehen haben – unseren ersten Überblick findet Ihr hier – fiebern wir der ersten Ausfahrt mit der neuen NT1100 entgegen. Immerhin tritt dieses Modell auch in die großen Fußstapfen der stolzen Honda-Historie erfolgreicher Tourenmotorräder: Pan European, Deauville, Crossrunner oder die CBF-Varianten, um nur einige zu nennen.
Um würdig an diese Ahnenreihe anzuschließen, hat sich Honda diesmal für einen Auftritt im Herzen der gehobenen Mittelklasse entschieden und die jüngste Generation der Africa Twin als Organspender berufen. Von ihr stammen Motor, Getriebe, Rahmen und Details wie beispielsweise der 6,5 Zoll große TFT-Monitor.
Bevor wir auf die einzelnen Bereiche eingehen, zuerst ein breiter Blick auf die NT1100. Sie steht stolz auf ihren 17-Zoll-Rädern, präsentiert sich aber ohne Chichi. Sie wirkt weder groß noch klein, weder altvaterisch noch avantgardistisch. Vielleicht kann man sie am ehesten als dezent beschreiben, was sicher auch auf die konservative Farbpalette zurückzuführen ist: Weiß, Schwarz, Mattgraumetallic.
In einer immer schreierischen Welt mutet es allerdings auch sympathisch an, wenn ein Motorrad durch seine Talente punktet und nicht durch Design-Kapriolen. Und das gelingt der NT1100 auf eindrucksvolle Weise, so viel können wir vorwegnehmen.
Die große Show startet bereits bei der Ergonomie, eine traditionelle Honda-Stärke. Man setzt sich auf den bequemen, breiten Sattel und hat dank 820 Millimeter Sitzhöhe ansatzlos einen sicheren Stand. Da die Fußraster recht tief angebracht sind, bleibt auch der Kniewinkel entspannt. Der im Vergleich zur Africa Twin deutlich schmalere, sauber gekröpfte Lenker liegt perfekt in der Hand und ermöglicht eine aufrechte, entspannte Körperhaltung, die wohl auch nach langen Tagen im Sattel nicht ermüdet.
Eine weitere Punktlandung ist die Aerodynamik mit Wind- und Wetterschutz. Wir konnten auf unserer ersten Ausfahrt in Spanien das gesamte Spektrum an Wetterphänomenen erkunden und der NT1100 daher beste Fähigkeiten bescheinigen. Der in fünf Stufen und über einen Verstellbereich von 164 Millimeter justierbare Windschild arbeitet höchst effektiv und macht die NT1100 zu einem phänomenalen Autobahnmotorrad. Selbst bei nur mehr in Deutschland erlaubten Tempi treten keine Verwirbelungen auf, der Helm liegt ruhig und sicher unterhalb des darüber geleiteten Luftstroms.
Auch die beiden Deflektoren erledigen die ihnen zugedachte Aufgabe perfekt: die zwei Plexi-Flügelchen oben schützen die Hände, die Spoiler unten die Füße. Nach einer halbstündigen Autobahn-Regenfahrt waren die Stiefel völlig trocken, auch die Beine haben keinen Tropfen abbekommen: Chapeau. Einziger kleiner Kritikpunkt: Die Verstellung der Scheibe benötigt beide Hände und ein wenig Kraft, unter der Fahrt geht das also nicht.
Wenn wir schon beim Loben sind, dann nehmen wir uns gleich das Fahrwerk zur Brust. Die Federwege wurden von 230/220 Millimeter der Africa Twin auf 150/150 gestutzt, was für ein straßenfokussiertes Tourenbike immer noch stattlich ist. Und das merkt man. Der Komfort ist einladend und erfreulich, gleichzeitig sind die Showa-Federelement doch noch so straff, dass sich in schnellen Kurven nichts aufschwingt. Und beim harten Bremsen taucht die Gabel bei weitem nicht so tief ab wie bei der Africa Twin, was das Bremsgefühl verbessert, die Stabilität erhöht. Dass die Einstellmöglichkeiten des Fahrwerks beschränkt sind, lässt sich so ohne weiteres verschmerzen. Gabel und Federbein lassen sich nur in der Vorspannung justieren, Letzteres per praktischem Handrad.
Der Komfort ist nicht die einzige Tugend des Fahrwerks. Dank klug gewählter Geometrie ist die NT1100 auch ein Musterbeispiel an Wendigkeit, was man ihr angesichts ihrer 238 Kilo vollgetankt (248 Kilo für die von uns gefahrene DCT-Version) nicht ohne Weiteres zutrauen würde. Schräglagenwechsel gehen von leichter Hand vonstatten, das Fahrverhalten ist neutral, balanciert, unkompliziert, präzise. Es macht ansatzlos Spaß, mit der NT1100 unterwegs zu sein, egal ob man im touristischen Cruising-Modus durch die Landschaft gleitet oder eine flottere Gangart anschlägt.
Bei der forcierten Gangart, aber auch auf der Autobahn, wird man schnell die superbe Nissin-Bremserei lieben lernen: sauber dosierbar, mit geringen Handkräften und schönem, aber nicht überfordernden Initialbiss. Nicht zuletzt sind auch die sportlichen Straßenreifen ein Gewinn für die Agilität: die in Erstausrüstung aufgezogenen Metzeler Roadtec 01 hinterließen einen stimmigen Eindruck, auch bei den nassen Straßen auf der zweiten Hälfte unserer Tagesetappe.
Jetzt aber zum Motor. Mit 102 PS und 104 Newtonmeter scheint der Zweizylinder auf den ersten Blick völlig identisch mit jenem der Africa Twin zu sein. Das stimmt – fast. Eine etwas geänderte Abstimmung der Einspritzanlage und Modifikationen im Abgassystem (neuer Schalldämpfer!) führen dazu, dass der Motor sanfter anspricht und insgesamt leiser, dezenter auftritt; sicher kein Fehler bei einem Tourenmotorrad, mit dem man lange Etappen zurücklegt. Seinen schönen Charakter hat der Motor ohnehin behalten, seine Bulligkeit von unten, die Drehfreude, die guten Vibrationen. Ein perfekter Partner für ein Reisebike in dieser Klasse.
Über den Spritverbrauch können wir nur bedingt verlässliche Aussagen machen. Nach unserer 270-Kilomter-Runde standen 5,8 Liter als Schnitt am Display; flottes Fahren und viel Klein-Klein (Foto-Runden, Video-Shooting) lassen aber vermuten, dass der Verbrauch im eher gleitenden Tourenbetrieb wohl deutlich darunter liegen dürfte – im Bereich des WMTC-Verbrauchs, den Honda mit genau 5 Litern angibt. So sollten in Verbindung mit dem 20,4-Liter-Tank dann auch stolze Reichweiten um die 400 Kilometer möglich sein.
Noch ein paar Worte zum Getriebe: Wir konnten leider nur die Version mit DCT testen, dieser Variante aber hohe Stimmigkeit zuschreiben. Auch beim DCT hat Honda nochmals Hand angelegt und dessen Wirkungsweise noch einmal geschmeidiger gemacht, vor allem in den Gängen Eins und Zwei. Tatsächlich lässt sich die NT1100 butterweich anfahren, die Gangwechsel sind seidig. Leider haben es die Ingenieure aber mit der spritsparenden Schaltstrategie wieder übertrieben, bei 60 km/h wird im „Normalmodus“ D mitunter schon der sechste Gang eingelegt. So sanft kann man dann gar nicht am Gasgriff werken, dass sich das Bike nicht schüttelt wie ein nasser Hund, die Scheibe vibriert und die Kette unfroh um sich schlägt. Wir haben daraufhin den sanftesten der drei Sportmodi (S1) angewählt, da passt’s dann für unseren Geschmack.
Und damit kommen wir schon zu unserem letzten Punkt, der die Ausstattung samt Bedienung und Connectivity umfasst. Hier finden wir Licht und Schatten. Im Scheinwerferlicht steht die äußerst umfassende Serienausstattung, die unter anderem bereits die Seitenkoffer (!), eine fünfstufige Griffheizung, den Tempomaten, den Hauptständer, eine USB- sowie eine 12V-Steckdose, die Voll-LED-Beleuchtung, einen Gepäckträger, selbstrückstellende Blinker und das Emergency Braking System umfasst. Die Koffer wirken solide, waren nach der Regenfahrt furztrocken und lassen sich friktionsfrei bedienen. Ihr Volumen ist okay, die Dimensionen sind aber eigenwillig. Sie sind weniger tief, dafür vom Querschnitt größer. Dies verringert die Gesamtbreite des Hecks, macht aber das Verstauen von Helmen unmöglich. Die erlaubte Zuladung beträgt fünf Kilo pro Koffer.
In puncto Fahrassistenzsysteme hat sich Honda dafür entschieden, auf eine 6-Achsen-Sensorbox zu verzichten. ABS und Traktionskontrolle (3-fach justier- und abschaltbar) arbeiten demnach nicht schräglagenabhängig. Dafür sind auch eine Wheelie-Kontrolle (3-fach) und fünf Fahrmodi an Bord. Die Fahrmodi – drei konfiguriert, zwei frei wählbar – beeinflussen allerdings nur das Ansprechverhalten des Motors und die Motorbremswirkung. Die Traktionskontrolle muss man davon unabhängig immer separat einstellen, genauso den Modus des optionalen DCT.
Einen eigenen Weg geht Honda auch bei der Connectivity. Statt wie mittlerweile gewohnt die Verbindung zwischen Smartphone und Bike via eigener App zu managen bietet Honda zwei alternative Wege. Das Smartphone kann per Bluetooth gekoppelt werden, was eine Steuerung von Musik und Anrufen über das Bordsystem möglich macht. Oder man koppelt das Smartphone per USB-Kabel, womit man Apple CarPlay oder AndroidAuto auf den großen 6,5-Zoll-Schirm bringt. Ein Headset muss dann allerdings zwingend eingebunden, die Sprachsteuerung (Siri und Co) zugelassen werden. Kleiner Fauxpas: Obwohl man das Handy mit dem Kabel verbinden muss, haben die Ingenieure kein Staufach dafür vorgesehen. Auf unsere Nachfrage wurden wir auf die maßgeschneiderten Tankbags (mit 3 oder 4,5 Liter Volumen) verwiesen, die für die Smartphone-Unterbringung entworfen wurden.
Der Bildschirm selbst ist übrigens wirklich gelungen, die Anzeigen sind klar und übersichtlich. Zudem darf man zwischen drei Anzeige-Stilen wählen und ob man den Hintergrund in Schwarz oder Weiß haben will. Die Bedienung wirkt indes immer noch leicht überfrachtet und erfordert etwas Zeit für die Eingewöhnung.
Noch ein letzter Blick auf das Zubehörprogramm, das einige feine Teile bereithält. Wir konnten beispielsweise den Komfortsitz testen (große Empfehlung) und auch das 50-Liter-Topcase, das mit zehn Kilo beladen werden darf und dessen Montage – große Ausnahme – kein Speedlimit des Herstellers nach sich zieht. Weitere Goodies wie Zusatzscheinwerfer oder die erwähnten Tankbags bündelt Honda in drei Paketen.
Auch wenn wir Themen wie Soziustauglichkeit oder generell das Fahren mit Beladung noch unbeantwortet lassen müssen, können wir nach der ersten Ausfahrt schon ein Resümee ziehen – und das fällt nicht nur überwiegend positiv aus, sondern in manchen Bereichen regelrecht euphorisch. Die NT1100 ist ein Reisemotorrad, das durch Unkompliziertheit, Komfort, Funktionalität und einen freundlichen Charakter auffällt. Was auf den ersten Blick ein wenig nach Langeweile klingt, entpuppt sich beim Fahren als Dienstbarkeit, die genügend Raum für Fahrspaß lässt: Weite Etappen sind genauso möglich wie flottere Passagen im Winkelwerk. All diese Talente werden von einem freundlichen Nahezu-All-Inklusive-Preis unterfüttert – und der Option auf das einmalige DCT, das nach wie vor ein Honda-Alleinstellungsmerkmal ist. Unterm Strich: eine mehr als gelungene Rückkehr in die gehobene Reise-Mittelklasse.