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Yamaha Tracer 9/GT: Erster TestDer japanische Sporttourer im Praxis-Check
Crossover-Sporttourer haben bei Yamaha eine ewig lange Tradition. Man könnte für sich sogar verbuchen, diese Fahrzeugart seinerzeit mit der TDM erfunden zu haben. Seit vielen Jahrzehnten wird also dieses Erbe gepflegt, seit 2015 unter dem Titel „Tracer“. Damals kam die Tracer 900 auf den Markt, 2018 folgte das erste große Facelift. Die Tracer 900 war übrigens auch im Verkauf ein Renner: rund 63.000 Stück verkaufte Yamaha davon seit 2015.
Nun könnte man denken, das sechs Jahre nach der Tracer-Einführung erneut ein Facelift auf uns wartet – das wäre allerdings ein Irrtum. Die Tracer 9 ist tatsächlich brandneu, mit einem neuen Rahmen, neuen Fahrwerk, neuem Design und vielen hinzugekommenen Hightech-Systemen. Nur der Motor basiert auf dem bisherigen Dreizylinder, wurde allerdings deutlich überarbeitet.
Beginnen wir daher gleich beim Motor/Getriebe. Der Dreizylinder wurde (wie auch in der aktuellen MT-09) mit drei Millimeter mehr Hub beglückt, damit stieg der Hubraum um 42 auf 889 Kubikzentimeter. Damit einher geht ein Leistungsplus von 4 auf 119 PS. Auch das maximale Drehmoment steig: von 87,5 auf 93 Newtonmeter. Auch nicht unwichtig für einen Tourer: Der Drehmomentgipfel liegt um 1500 Umdrehungen früher an, nämlich bei 7000.
Beim Getriebe wurden erster und zweiter Gang länger übersetzt, was die Fahrbarkeit bei langsamen Tempo verbessern soll. Und: Die weiterhin im Programm befindliche GT-Version erhät einen Quickshifter, der nicht nur hinauf-, sondern auch herunterschalten kann. Unser erstes Resümee: Der Quickshifter funktioniert in jeder Fahrsituation fantastisch und ist aus unserer Sicht ein Must-Have. Selbst wenn man sich für das Basismodell entscheidet (wofür es auch gute Gründe gibt, dazu später mehr), sollte man unbedingt den Quickshifter ordern. Noch dazu, da das Seriengetriebe nicht besonders präzise ist.
Der Motor selbst kann in fast jeder Hinsicht überzeugen. War er schon bislang in der Tracer mit guten Manieren gesegnet, so verstärken sich seine positiven Eigenshaften hinsichtlich der Geschmeidigkeit erneut. Man kann sogar mit 50 km/h im sechsten Gang durch die Ortschaft rollen, umgekehrt baut er seine Leistung in schönem Bogen über das Drehzahlband auf. Auch Lastwechsel sind keine zu vermelden; selbst beim engagierten Feuern durchs Winkelwerk lässt er sich sauber dosieren und auch in tiefer Schräglage fein am Gas bewegen. Keine Spur jener Ruppigkeit und Aggressivität, die die allererste MT-09 kennzeichnete.
Dazu darf man vier Motor-Mappings aufrufen: Sport, Standard, Soft und Rain – wobei sie einfach mit den Zahlen 1–4 benannt sind. Leider gibt es ja keine Fahrmodi, die alle möglichen Funktionen praktisch integrieren, sondern man muss jeden Bereich extra einstellen. Das ist ein bissl umständlich und patschert, wie wir noch sehen werden.
Warum schrieben wir, dass er fast in jedem Bereich überzeugen kann? Der Verbrauch scheint nicht die größte Stärke zu sein. Der WMTC-Wert liegt bei 5 Liter, bei unserer flotten (aber nicht brachialen) Ausfahrt über die Hügel der Toskana waren es sechs Liter. Kollegen mit anderer Fahrweise (aber gleichem Tempo) kamen sogar auf über sieben Liter. Hier wird ein längerer Test im Lauf des Frühjahrs verlässlichere Daten bringen. Was auf jeden Fall gut gelungen ist: Die Geräsuchkulisse, für die sich Yamaha spezielle Mühe gegeben hat. Unter anderem dank unterschiedlich langer Ansaugkanäle klingt die Tracer 9 für den Fahrer sehr charaktervoll, ohne aber zu stören; und aus dem Auspuff röhrt sie dezent, jedoch ebenfalls mit schöner Kulisse.
Damit kommen wir zum Fahrwerk und dem Thema Gewicht. Yamaha hat hier ein strenges Auge auf die Details gehabt und unter anderem beim Rahmen, bei den neuen „Spinforged“-Rädern (ein Kilo!) und beim fast völlig unter dem Motor versteckten Auspuff (minus 1,4 Kilo) gespart. Nicht alles davon wird am Ende schlagend, denn die Techniker haben an anderen Bereichen auch Gewicht investiert, besonders beim Heckrahmen. Er ist nun aus Stahl gefertigt und dafür verantwortlich, dass sich Tourenfahrer über 193 Kilo Zuladung freuen können. Außerdem ist nun erstmals die gleichzeitige Montage von Seitenkoffern (schwimmend, je 30 Liter) und Topcase (50 Liter!) erlaubt.
Unterm Strich verlor die Tracer 9 daher einen Kilo und hält bei 213 Kilo – mit vollem 18,7-Liter-Tank wohlgemerkt. Die weitaus üppiger ausgestattete GT kommt auf 220 Kilo, allerdings ohne die serienmäßigen Seitenkoffer, die inklusive Befestigung nochmals zehn Kilo wiegen.
Beim Fahrwerk zeigen sich erneut große Unterschiede zwischen dem Standardmodell und der GT. Allerdings besitzt nun schon das Basismodell Kayaba-Komponenten, die vorne und hinten jeweils in Vorspannung und Zugstufe einstellbar sind. Leider wurde beim Federbein auf ein praktisches Handrad für die Vorspannung verzichtet.
Das Basis-Fahrwerk wurde sehr straff ausgelegt, was sich dafür beim schnellen Fahren positiv bemerkbar macht – sofern man auf gutem Untergrund unterwegs ist. Wird die Straße sehr schlecht, dann hat man einiges zu tun, um die Tracer 9 auf Kurs zu halten. Über Kanten und Löcher – leider weit verbreitet auf den toskanischen Backroads – springt die Tracer fast, und man bekommt einige Schläge auf die Hände und ins Kreuz. Auf der Habenseite stehen ein sehr leichtfüßiges Einlenkverhalten, gute Stabilität in Schräglage und beim Geradeausfahren sowie insgesamt ein äußerst vertrauenerweckendes Fahrverhalten, das durch die neuen Bridgestone Battlax BT32 unterstützt wird. Auf guten Staßen kann ihr wohl kaum ein anderes Tourenbike in dieser Preisklasse das Wasser reichen.
Das erstmals bei der Tracer in der GT-Version inkludierte semi-aktive elektronische Fahrwerk stammt ebenfalls von Kayaba. Äußerst ungewöhnlich für ein elektronisches Fahrwerk ist die Tatsache, dass man die Vorspannung weiterhin manuell am Fahrzeug einstellen muss – eine Frage des Preises und Gewichts, argumentiert Yamaha. Immerhin besitzt die GT dafür ein Handrad am Federbein. Die Elektronik regelt ausschließlich die Dämpfung und reagiert auch in Millisekunden auf die Fahrbahnbeschaffenheit. Außerdem kann man zwei Modi anwählen, den sportlicheren Modus und ein komfortableres Setup.
Das elektronische Fahrwerk funktioniert hervorragend und ist vor allem um Welten komfortabler – selbst im Sport-Modus. Nur bei sehr harten Kanten spürt man die Schläge wieder durch, sonst gleitet man auch über miserable Strecken. Ein kleiner Nachteil ist das etwas weniger natürliche Einlenkverhalten, das etwas Eingewöhnungszeit benötigt – und etwas geringere Transparenz am Vorderrad. Natürlich spüren sportliche Fahrer auch das Mehrgewicht der GT von 17 Kilo inklusive Koffer.
Kommen wir nun zu den Touring-Eigenschaften, hier vor allem der Ergonomie. Gleich vorab: Man sitzt hervorragend und kann diese Position auch noch verändern. Sowohl für den Sitz als auch für die Fußraster und den Lenker stehen jeweils zwei unterschiedliche Positionen zur Verfügung. Der Fahrer-Sitz ist zudem etwas tiefer angebracht als zuvor: Er befindet sich in der unteren Position auf moderaten 815 Millimeter Höhe.
Auch an den Sozius/die Sozia wurde gedacht: Sein/ihr Sattel ist breiter und dicker gepolstert, zudem wurden die Fußraster für geringere Kniewinkel nach unten verlegt.
Der große Windschild kann hier nicht ganz mithalten. Seite Verstellung (über zehn Rasten und 50 Millimeter) könnte leichter von der Hand gehen und der Schutz ist zwar am Körper und am Helm sehr gut, aber im obersten Bereich vereiteln Turbulenzen die maximale Punktezahl. Schon ab etwa 100 km/h bei uns spürbar, erst recht aber auf der Autobahn beginnt der Helm zu wackeln (Körpergröße des Testers 1,80 Meter). Kleinere Fahrer dürften davon verschont bleiben, größere müssen wohl zum Zubehör-Windschild greifen, das noch eine Spur höher ausfällt.
Um das Kapitel Touring abzuschließen: In die Seitenkoffer der GT-Version passen jeweils ein Integralhelm und die Bedienung ist gelungen. Auch das Abnehmen der Koffer funktioniert rasch und unkompliziert. Wer das Basismodell kauft, kann übrigens statt der großen Koffer auch kleinere Urban-Packs bestellen, die die Gesamtbreite verringern. Mit den großen Koffern beträgt sie 96 Zentimeter.
Kommen wir zuletzt zu einem Kapitel, das uns weniger Freude bereitet: die Elektronik und ihre Bedienung. Die gute Nachricht: Sogar beim Basismodell ist nun eine IMU (6-Achsen-Sensorbox), die fortschrittliche Assistenzsysteme möglich macht, serienmäßig: Kurven-ABS, Traktionskontrolle, Wheelie-Kontrolle und eine Slide Control, die von der R1 abgeleitet wurde. Ein Tempomat ist übrigens auch schon beim Basismodell an Bord.
Bedient wird alles über Elemente links und rechts am Lenker. Links sind es ein Taster für den Zeigefinger und ein ergonomisch nicht so gut platzierter Wippschalter; rechts ist es ein Rändelrad mit Druckfunktion, das mit dem Daumen angesteuert wird. Die Ergebnisse sieht man an den zwei je 3,5 Zoll großen TFT-Bildschirmen – eine Lösung, die einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt, wie die gesamte Steuerungslogik.
Zum einen ist der Kontrast der beiden Displays bei hellem Sonnenlicht verbesserungswürdig. Zum anderen hat man sich entschieden, links viel zu viele Informationen auf engem Raum darzustellen. Das Display wirkt überfrachtet, manche Infos lassen sich während der Fahrt kaum erkennen. Rechts wiederum befinden sich nur sekundäre Anzeigen, die man auswählen kann. Sie erhalten vergleichsweise viel zu viel Raum.
Dazu kommt noch die Strategie, dass man die Assistenzsysteme nicht in allgemeine Fahrmodi bündelt, sondern einzeln einstellbar macht: den Motor in vier Stufen, die Assistenzsysteme (Traktionskontrolle, Wheelie Control, Slide Control) in drei Stufen, das ABS in zwei Stufen, das Fahrwerk in zwei Stufen. Das macht es sehr kompliziert. Außerdem fragt man sich, warum beim ABS beispielsweise die Kurven-Funktion abschaltbar ist. Das mag auf einem Racebike für die Rennstrecke sinnvoll sein, sicher nicht bei einem Straßenbike. Übertrieben hat Yamaha auch bei der Griffheizung, die in zehn Stufen (!) justierbar ist – zum Preis, das die Regelung unter der Fahrt sehr kompliziert vorzunehmen ist.
Bei so viel Technik-Verliebtheit wundert es umso mehr, dass ausgerechnet Connectivity keine Rolle spielt, weder serienmäßig, noch gegen Aufpreis. Diese Funktion würde man sich in dieser Liga und Preisklasse heutzutage auf jeden Fall erwarten. Laut Yamaha ist man nicht mehr zeitgerecht fertiggeworden, man wisse aber um dieses Defizit und arbeite daran.
So bleiben am Ende noch das Resümee und die Frage: Standard-Modell oder GT?
Beginnen wir beim Resümee: In der Hardware hat Yamaha fast alles richtig gemacht. Das Bike beherrscht die Spreizung zwischen Sport und Komfort (ein wenig besser ist darin die GT), der Motor ist eine Punktlandung, die dynamischen Talente wurden geschärft, die Austattungsumfänge angehoben. Da passt auch weiterhin das Preis-Leistungs-Verhältnis, obwohl die Tracer 9 um 500, die GT sogar um einen Tausender teurer geworden ist. Aber es gibt eben auch den kleinen Haken, der mit dem Bediensystem und den nicht optimalen Displays verbunden ist. Wer das anders empfindet und damit zurechtkommt, der wird mit der Tracer 9 viel Freude haben.
Nun zur Frage: Standard oder GT? Wer seinen Fokus auf die Sportlichkeit richtet, der kann getrost zum Standardmodell greifen. Die Einbußen im Komfort wird man dann verschmerzen, lediglich den Quickshifter sollte man unbedingt dazunehmen. Die Gewichtsersparnis gegenüber der GT ist ein weiterer Faktor. Wer hingegen Sportlichkeit mit Tourenkomfort kombinieren will, der greife zur GT. Sie bietet deutlich mehr Komfort durch das elektronische Fahrwerk und inkludiert die soliden, sinnvollen und gut integrierten Seitenkoffer. Die hier liebevoller bezogenen Sitze wirken außerdem nochmals komfortabler und auch die Heizgriffe wird man nicht missen wollen. Ein Kurvenlicht sowie den Quickshifter gibt’s für 2500 Euro Mehrpreis obendrauf.
Dazu steht, es wurde erwähnt, auch ein breites Programm an Zubehör bereit: rund 30 Teile, dazu zwei Vorteils-Packs für Travel oder Sport.
Die Tracer 9/GT soll im April zu den Händlern rollen. Zuletzt noch die Preise für Österreich und Deutschland:
Tracer 9: 11.599 Euro (D), 12.499 Euro (A)
Tracer 9 GT: 13.999 Euro (D), 14.999 Euro (A)